Seit kaum zwei Wochen kursiert das neue Buch eines Kriegsflüchtlings aus dem Balkan, des bosnisch-stämmigen Autors Saša Stanišić, auf dem Markt – und in der begeisterten Kritik. Ein weiteres Buch aus der Perspektive “am Rande der Gesellschaft”, eines, das uns die aktuellen Debatten um Separatismus und Nationalismus aus anderen Augen sehen lässt, das sich mit Identität beschäftigt und mit den gesellschaftlichen Einflüssen, die sie prägen. Stanišić beschäftigt sich in seiner “autobiographischen Selbsterkundung” mit den eigenen Hintergründen – den Hintergründen, die er mit seiner Flucht aus seinem Heimatland, das damals im Krieg lag, als 14-Jähriger im Jahr 1992 räumlich und damit, zumindest ein Stück weit, mental hinter sich gelassen hat. Genauso aber mit den Dingen, die ihn nach seiner Ankunft in Heidelberg und in seinem weiteren Leben in Deutschland geprägt haben – oder geprägt haben könnten. Denn diese Herangehensweise ist es auch, die den Stil des Buches weitgehend ausmacht: Eine scheinbar wahllose, unchronologische Aneinanderreihung von teils essayistischen Textpassagen, die auch inhaltlich nicht zusammenhängend von historischen Beschreibungen über persönliche Erinnerungen bis hin zu Erfundenem reichen. Damit erzielt der Autor weitestmögliche Annäherung an den abstrakten Begriff der Identität, sowohl mit Schlüsselszenen aus seinem Leben als auch mit “banaleren” Details.
Wer Herkunft, Stanišićs viertes Buch, in die Hand nimmt in der Hoffnung, von Ausgrenzung eines jugendlichen Geflüchteten zu hören, die Perspektive eines Entfremdeten, Heimatlosen zu sehen zu bekommen, in der Hoffnung, von den Schwierigkeiten eines neuen Landes zu hören, einer Sprache, die nicht die eigene ist, einer Kultur, mit der man nicht vertraut ist, und der man sich trotzdem “fügen” muss – wer also eine reine “Flüchtlingsnarration” erwartet, die die deutsche Gesellschaft aus Sicht derer charakterisiert, die hinter ihr auf der Strecke bleiben müssen, der wird in Herkunft nur wenig Entsprechendes vorfinden. Herkunft – der Titel klingt fast abgedroschen, irgendwie rührselig, in Verbindung mit dem, was das Buch verspricht, zu sein: Eine Identitätssuche, eine bruchstückhafte Ansammlung von Erinnerung; von Herkunft.
Fast “deutsch” zu sein scheint der, der sich hier damit vermarktet, aus einem anderen Land zu kommen, geflüchtet, also gezwungen gewesen zu sein, sich aus seiner Heimat, von seinem Geburtsort und dem Ort seiner Kindheit wegzubewegen, in ein anderes Land zu ziehen und sich in dessen Kulturkreis einzufügen. “Deutsch” deswegen, weil er in den kurzen, reflektierenden Lebensabrissen, eigentlich eher seine “deutsche Herkunft” beschreibt – auf der anderen Seite erforscht er das Land seiner Kindheit, aber eher mit der Haltung von jemandem, der etwas Fremdes kennenlernen will; fast einer journalistischen Haltung. “Deutsch” auch deswegen, weil der Autor scheinbar “nie” Schwierigkeiten hatte, sich in sein neues Lebensumfeld einzufügen, nie Schwierigkeiten hatte, die Sprache zu lernen, nie Probleme, etwa in der Schule Anschluss zu finden.
Stanišić ist, so könnte man es herauslesen, ein Herkunftsloser, einer, der in seiner neuen Heimat fremd ist durch seine alte Heimat, sich aber auch durch die neue Heimat zunehmend von seiner alten Heimat entfremdet.
Was also ergibt die Annäherung an seinen persönlichen Hintergrund, die durch das literarische Festhalten von Herkunft geschieht? – sei es durch eine Reise in seinen Geburtsort Visegrad oder das Dorf in den bosnischen Bergen, aus dem seine Familie stammt bis hin zur Beschreibung seiner Jugend in Heidelberg; der Jugendtreffpunkt an der ARAL, die bosnischen, türkischen, italienischen, polnischen Flüchtlinge aus seiner Wohngegend. Die Antwort ist womöglich genau das Gegenteil dessen, was die Materie des Buches prägt und widerspricht somit auch in gewisser Hinsicht dem Titel des Buches.
Denn in Wahrheit geht es in Herkunft nicht um jemanden, der von der kulturellen Eigenheiten seiner ersten Heimat so geprägt ist, dass er Schwierigkeiten hat, Anschluss zur “neuen” Heimat zu finden. Es geht nicht um zwei Kulturen, die sich vereinbaren müssen und stattdessen in der Wahrnehmung des Autors kollidieren. Womöglich geht es eher darum, von dem Gedanken einer kulturellen Prägung wegzukommen, von dem Eindruck, es sei die verschiedene Herkunft, die einen distanziert und die ständig Thema ist, auch im “neuen” Alltag.
“Deutschland war Thema. Die Gegenwart. Was gelang. Kränkungen auch. Demütigungen.”
Es geht gewissermaßen sogar um die völlige Abkehr von Reflektionen über Herkunft und räumliche Prägung, und, dies alles primär, um Anschluss zu finden, genauso von Gedanken über die kulturellen Eigenheiten der neuen Umgebung.
“Meine Rebellion war die Anpassung. Nicht an eine Erwartung, wie man in Deutschland als Migrant zu sein hatte, aber auch nicht bewusst dagegen. Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischisierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören. Überall, wo man mich haben und wo ich sein wollte. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte.”
Das ist ein ganz neues Gefühl von Entfremdung: Seiner kulturellen Abstammung zu entsagen, weil nur wichtig ist, im neuen Land Anschluss zu finden. Und dadurch, verbunden mit der “Gleichgültigkeit” gegenüber der “Herkunft” des neuen Lebensumfeldes, entsagt man gleichzeitig jedem Gedanken an, jeder Überlegung über Nationalidentität.
Im Grunde ist Stanišićs Schreiben über seine Vergangenheit, sein Erinnern, ein Privileg; wenn man geflüchtet ist, wenn man fremd ist, zumindest gewissermaßen, wenn man sich also irgendwo einfügen, integrieren muss, dann hat man keine Muße, über Herkunft nachzudenken, darüber, was einen wirklich geprägt hat.
Nach seiner Vergangenheit zu suchen, sich zu erinnern und sich seine “Entfremdung” einzugestehen, heißt auch, den Mut zu haben, seinen aktuellen Status und seine Lebensführung in Frage zu stellen. Diese Fragen wiederum zu ignorieren und sich (unbewusst, also nicht weiter darüber nachdenkend) in gesellschaftliche Formprinzipien einzuordnen, stellt für viele, die ihre Heimat gezwungenermaßen verlassen müssen, einen Bruch in der Identitätsbildung dar.
Diese Erkenntnis – und damit die der Relevanz von Erinnerung und Reflektion – ist heute womöglich essentiell wie nie; heute, wo sich die Gesellschaft immer weiter in Globalisten und Patrioten polarisiert, ist wichtig, zwischen staatengebundenem “Patriotismus” und der Reflektion über “Vaterlandscharakter” zu unterscheiden. Immer wieder, und vor allem in meiner ebenfalls aus Bosnien vertriebenen Familie, fällt mir auf, dass eine Unterscheidung dieser beiden nicht erfolgt und stattdessen eine Gleichgültigkeit für kulturelle Eigenheiten und Charakterzüge einsetzt.
Wir brauchen mehr Reflektion, mehr Neugierde und Forscherdrang, um uns verbunden zu fühlen und Einheit zu bilden. Wir brauchen mehr Herkunft.