Quo vadis Journalismus? Warum die Causa Relotius wichtig für den Journalismus ist

Kommentar

Wenn ein Journalist nicht die Wahrheit schreibt, in großem Stil Fakten, Protagonisten und Begegnungen für seine preisgekrönten Reportagen erfindet und diese über Jahre hinweg unbemerkt in den bedeutendsten Zeitungen und Nachrichtenmagazinen veröffentlicht, dann ist das nicht nur ein Vertrauensbruch erster Güte zwischen ihm, den Zeitungen und deren Lesern, es wirft auch grundsätzliche Fragen über Werte und Anspruch des Journalismus auf.

So hat der Fall des Claas Relotius eine mediale Debatte ausgelöst, die vielen Journalisten und Medienvertretern offenbar schon lange unter den Nägeln brannte und in der eben um jene grundsätzliche Frage nach dem „richtigen Journalismus“ diskutiert wird. Während die Einen für einen „werteorientierten“ Journalismus plädieren und den „Neutralitätswahn des Journalismus“ verteufeln, kritisieren Andere gerade diese Haltung, bei der die richtige Haltung über der Wahrheit stehe. Die Debatte geht soweit, dass sogar das Genre Reportage als solches hinterfragt und das Ende des „Edelfederjournalismus“ prophezeit wird.

Und ist das Genre der Reportage inzwischen nicht wirklich veraltet, ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert? Die Reportage entstand schließlich in einer Zeit, als nur die wenigsten im Laufe ihres Lebens ins Ausland, geschweige denn auf einen anderen Kontinent reisen konnten. Heute genügen einige wenige Klicks und wir stehen auf dem Mount Everest, in Australien oder am Südpol. Oft erfahren wir über soziale Netzwerke von Terroranschlägen, bevor die klassischen Medien überhaupt davon berichtet haben. Aber nein, gerade heute brauchen wir die Reportage, vielleicht sogar mehr als jemals zuvor. Ihre Vorzüge liegen eigentlich auf der Hand: Zum einen berichtet die Reportage fast immer von Orten, an denen wir selbst nicht sein können oder wollen. Wer verlebt seinen Urlaub in Slums und Armenvierteln, um sich ein Bild von der weltweiten Armut zu machen? Wer würde seine freien Tage gerne in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung verbringen, um den Pflegenotstand in Deutschland mit eigenen Augen zu sehen? Desweiteren besitzt der Reporter Vorort die nötige Expertise (zumindest sollte er), um die Situation zu bewerten. Diese Expertise kann der Leser von Zuhause aus nicht erlangen. Ein ähnlicher Fall wie der des Claas Relotius hätte auch in jedem anderen Genre des Journalismus passieren können. Die Reportage ist nur besonders anfällig gewesen, eben weil sie in besonders hohem Maße vom Journalisten und dessen subjektiven Eindruck abhängt.

Das Problem, das zum Fall Relotius führte und das eigentlich längst bekannt sein sollte, ist die Tatsache, dass viele Journalisten (so auch Relotius) mit einer vorgefassten und vor allem unveränderbaren Meinung recherchieren. Das wird besonders deutlich durch Relotius´ Artikel über die amerikanische Stadt Fergus Falls, in dem er ein stereotypes Bild der Kleinstadt und Bewohner als waffen-affine Trump-Unterstützer zeichnet und das – dem Internet sei Dank – zwei der Bewohner aus Fergus Falls als Fantasie des Autoren entlarvten. Die logische Konsequenz wäre also, dass dem journalistischen Arbeiten zunächst der Anspruch nach der hundertprozentigen Wahrheit zugrunde liegen sollte. Ein Journalist sollte zunächst wirklich „sagen, was ist“. Was aber hat Medien wie den SPIEGEL (denn eben jenes Zitat von Rudolf Augstein steht in der Eingangshalle des SPIEGEL-Verlagsgebäudes in Hamburg) zum Sturmgeschütz der Demokratie gemacht? Es war mehr, als nur die Wahrheit zu schreiben. Das Magazin erlangte diesen Ruf, weil seine Journalisten bestimmte Werte vertraten und diesen auch in Krisen wie der SPIEGEL‑Affäre treu blieben. Sie hatten eine Haltung und bewahrten sich diese. Natürlich bestand diese Haltung auch im Wesentlichen aus ihrem Anspruch, zu sagen, was ist. Der Journalismus erlebte in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts seine Blüte, weil er beides besaß: Wahrhaftigkeit und Haltung.

Deshalb ist Causa Relotius überaus wichtig für den modernen Journalismus, weil sie uns wieder auf die Frage nach dem grundsätzlichen Wesen des Journalismus stößt. Darüber hinaus hat sie uns auch vor Augen geführt, dass die Abgründe des Journalismus eben auch nur menschliche sind und wir gerade deshalb nicht davor zurückschrecken sollten, das, was wir lesen und schreiben, kritisch zu reflektieren. Der Journalismus braucht sich selbst ebenso sehr, wie die Gesellschaft den Journalismus. Die selbstkritische und schonungslose Selbstaufklärung und –aufarbeitung des SPIEGELs war ein erster und wichtiger Schritt, um den Pfad des Journalismus in Zukunft wieder gangbar zu machen. Sie war eben nicht nur „in eigener Sache“, sondern auch in der des Journalismus.

Schreibe einen Kommentar
Ähnliche Artikel
Mehr lesen

Instawahn Ein Reformvorschlag

Instagram hat sich als soziales Netzwerk zu einer Anhäufung von Banalitäten entwickelt. Entgegengewirkt werden soll dem verrufenen Selbstoptimierungsdruck - tatsächlich beigetragen wird zum grenzenlosen Informationsmüll und Bedeutungsverlust, kommentiert Inéz Bohnacker...