Todesfalle Lesbos

Bild: Seebrücke (CC BY-ND 2.0)

Ein Gastkommentar von Yannis Mühlstraßer

Bisher glänzte Bundesinnenminister Horst Seehofer nicht mit sonderlich wohlwollenden Aussagen bezüglich Geflüchteter: Denkt man an Chemnitz im August 2018 zurück, so hört man leider immer den unerträglichen Satz, nachdem die „Migrationsfrage die Mutter aller politischen Probleme“ in Deutschland sei.

Die jetzige Corona-Krise bringt ganz andere politische Probleme mit sich. Kann man alle Betroffenen medizinisch versorgen und wie kann man die Ausbreitung des Virus eindämmen? Zumindest auf die letzte Frage hat die Politik anscheinend eine Antwort: Grenzen schließen.

Die Grenzen komplett schließen? Nein, Seehofer macht eine Ausnahme. Kranke Flüchtlingskinder und ihre Familien aus dem Geflüchteten-Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos sollen kommen dürfen. In Moria hausen abertausende Geflüchtete in einem restlos überfüllten Lager. Die Zustände dort sind beispiellos: mangelnde medizinische Versorgung, zu wenig zu essen, zu wenig Unterkünfte, kaum fließendes Wasser, katastrophale hygienische Zustände und unendliches Elend.

Würde hier das Coronavirus ausbrechen wäre das verheerend. Doch Expert*innen glauben, dass ein Ausbruch nur noch eine Frage der Zeit ist. Denn das Virus fragt nicht nach Namen, Geschlecht, Glaubensrichtung oder Herkunft. Es wird vor griechischen Flüchtlingsunterkünften genau sowenig Halt, wie vor deutschen Altersheimen machen.

Deshalb ist schnelles Handeln gefragt: Es scheint, als hätte unser Bundesinnenminister die Situation und das Problem verstanden, oder? Falsch. Zwar sagt er, dass sich die Bundesrepublik an der Aufnahme beteiligen wird, dann verweist er aber schnell auf Brüssel und wägt sich somit in Sicherheit. Fraglich bleibt, ob dann daraus überhaupt noch irgendetwas wird.

Schon die Anzahl der Geflüchteten, die Deutschland gemeinschaftlich mit Frankreich, Finnland, Irland und Portugal aufnehmen will ist auf 1.600 Menschen limitiert. Es genügt einfache Mathematik, um verstehen zu können, dass das weniger als die Zehntausenden sind, die auch evakuiert werden müssten.

Es scheint, als wäre Deutschland zu sehr mit sich selbst und der Corona-Krise beschäftigt, um auch nach den anderen zu schauen. Helfen wir den Frauen, Kindern und Männern auf Lesbos also erst, wenn wir die Krise selbst überstanden haben? Wann genau wäre das dann? Nächsten Monat? Im Sommer? Oder doch erst nächstes Jahr?

Stimmen gegen die Herangehensweise Seehofers und der EU werden lauter: So meint Erik Marquardt, Europa-Abgeordneter der Grünen, dass Griechenland ohne Not das Asylrecht außer Kraft gesetzt habe. Er appelliert an den gesunden Menschenverstand: „Wir sollten uns jetzt um alle kümmern, die in dieser Situation nicht bedacht werden.“, heißt es auf seinem Twitter-Account.

Um Marquardt herum hat sich eine ganze Schar von Prominenten gebildet. Sie fordern in einer Online-Petition, Moria und die anderen Lager in Griechenland vollständig zu evakuieren. Die über 100 deutschen Städte, die sich dazu bereit erklärten, besonders schutzbedürftigen aufzunehmen, sollten dies auch endlich dürfen.

Neben der Petition bilden sich auch Bürger*innen-Initiativen und Hilfsorganisationen. Die Dresdner Hilfsorganisation „Mission Lifeline“ sammelte 55.000 € um mittels eines gecharterten Flugzeugs circa 100 Geflüchtete nach Deutschland zu holen. Ihnen ginge es dabei nicht darum, die EU oder den Staat aus der Verantwortung zu nehmen. Sie wollen mit gutem Beispiel voran gehen. Die Organisation wartet noch auf eine Antwort des Innenministeriums – bisher vergebens.

Für die Bewohner*innen von Moria endet die Flucht vor Kämpfen und Leid in einem neuen Kampf. Ein Kampf gegen das neue Virus. Nur kann man vor dem Virus nicht fliehen.

Hintergründe zur Lage auf den griechischen Inseln

Die griechische Insel Lesbos liegt ganz im Osten der EU, gerade einmal zehn Kilometer trennen sie vom türkischen Festland. Um die Geflüchteten, die dort täglich stranden, unterzubringen, wurden dort und auf den Nachbarinseln Unterkünfte errichtet. Besonders bekannt ist das Flüchtlingscamp „Moria“. Ursprünglich ausgelegt war das Lager für 3.000 Menschen, aber schon in den letzten Jahren heillos überfüllt. Doch weil die Türkei ihre Grenzen geöffnet hat, stranden dort immer mehr Menschen. Heute beherbergt das Camp nahezu 20.000 Geflüchtete – Tendenz steigend, die Kapazitäten Morias sind also schon jetzt restlos überschritten. Wegen der Corona-Pandemie ziehen zudem einige Hilfsorganisationen ihr Personal aus den Camps ab. Die Geflüchteten sind dort nahezu sich selbst überlassen.

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