Deutschland ist, wo man für seinen Müll vor Gericht zieht. Jedenfalls hat das ein Supermarktunternehmen getan und einen Prozess gegen zwei Studentinnen geführt, die aus den Müllcontainern des Supermarktes weggeworfene Lebensmittel gerettet hatten. „Retten“ ist hier in der Tat der richtige Ausdruck, denn die Lebensmittel waren allesamt noch essbar und hatten höchstens das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten. Lebensmittel wegwerfen ist in Deutschland gang und gäbe; ein Drittel aller produzierten Lebensmittel landen im Müll; mehr als die Hälfte dieser jährlich 18 Millionen Tonnen an Lebensmitteln könnte vermieden werden. Und so trägt die deutsche Konsum- und Wegwerfgesellschaft zum weltweiten Hunger bei. Laut einer Studie des WWF würde die globale Lebensmittelproduktion zwölf Milliarden Menschen ernähren können. Gleichzeitig jedoch müssen weltweit mehr als eine Milliarde Hunger leiden.
Gegen diese Ungerechtigkeit, den Wegwerfwahn unserer Gesellschaft wehren sich inzwischen einige vorwiegend junge Menschen in Deutschland. Sie „containern“ und retten so weggeworfene Lebensmittel aus den Mülltonnen der Supermärkte. Auch die beiden Studentinnen aus Bayern taten dies und wurden deshalb des „besonders schweren Diebstahls“ angeklagt. Im Januar dieses Jahres sprach ein Gericht sie schuldig und verurteilte sie zu Geldstrafen und Arbeitsstunden bei der Tafel, bei der sich die Studentinnen übrigens schon lange engagieren. Das Urteil wirkt paradox, wenn man bedenkt, dass die Studentinnen nun Lebensmittel für die Tafel vor dem Wegwerfen retten müssen, weil sie weggeworfene Lebensmittel gerettet haben. Während andere EU-Staaten wie Frankreich Supermärkte längst dazu verpflichtet haben, unverkauftes Essen zu verschenken, gibt es in Deutschland, das sich so gerne als Vorreiter im Klimaschutz inszeniert, keine derartigen Gesetze, um den Konsumwahn unserer Gesellschaft einzudämmen. Alle Anläufe, „containern“ zumindest teilweise zu legalisieren oder Supermärkten das Wegwerfen von unverkauften Lebensmittel zu verbieten, scheiterten. Die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland sieht ein Abfallrecht vor, nach dem Abfall bis zur endgültigen Entsorgung und der Abholung als Eigentum „des Wegwerfers bzw. des Grundstückeigentümers“ zu betrachten ist. Die Lösung für dieses konkrete Problem einer Kriminalisierung von „Containern“ liegt zwar in den Händen der deutsche Volksvertreter, doch damit würde man nicht die Wurzel des Problems erreichen.
Diese Wurzel liegt in der Gesellschaft, konkreter in der Ökonomisierung derselben. Es ist klar, dass der deutsche Wohlstand auf der Wirtschaftskraft unseres Landes fußt, dass wir nur durch eine zunehmende Ökonomisierung der gesellschaftlichen Prozesse zu einem der reichsten Länder auf der Erde geworden sind. Unsere Gesellschaft ordnet ihr Handeln hauptsächlich dem Zweck einer Gewinnmaximierung unter. Doch genau damit haben wir, die gesamte sogenannte westliche Welt, die Probleme ausgelöst, die uns jetzt einholen. Wir sind die Hauptursache für Flüchtlingskrisen, Finanzkrisen und die Klimakatastrophe.
Wir leben nicht mehr im Anthropozän, dem Erdzeitalter, in dem der Mensch den größten Einfluss auf diesen Planeten hat. In der Wissenschaft spricht man bereits vom Kapitalozän, denn das Geld ist doch dann letztendlich Herr in dieser Welt. Über die Ökonomie haben wir die anderen zwei Säulen eines nachhaltigen Lebens vergessen: Soziales (Handeln) und Ökologie. Wir haben vergessen, was um uns herum geschieht. In der Natur und unter unseren Mitmenschen. Das, was wir in den Industrieländern unser Leben nennen, ist also allenfalls Vegetieren. Nicht zukunftsfähig und in einigen Jahrzehnten zu Erde geworden, denn im Gegensatz zu den meisten unserer Erzeugnissen sind wir biologisch abbaubar.
In Anbetracht der Unsummen, die zukünftige Generationen für den Klimaschutz aufbringen müssen, relativiert sich der kurzfristige, vermeintliche ökonomische Aufwand für einen allmählichen Kohleausstieg, eine allmähliche Umrüstung vom Verbrennungsmotor auf umweltfreundlichere Alternativen und einen gemäßigten Klimaschutz. Für das Fortbestehen unserer Zivilisation ist es daher unerlässlich die Ökonomisierung zurückzufahren. Eben in jenem Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit aus Ökologie, Soziales und Ökonomie finden wir die Lösung. Das Urteil des bayerischen Gerichts gegen das “Containern”der beiden Studentinnen spiegelt nur die eine der drei Säulen der Nachhaltigkeit wider. Eine zeitgemäße Rechtssprechung muss auch auf den Werten der Ökologie und des sozialen Handelns fußen.
Es heißt allerdings nicht umsonst, dass Veränderung immer bei einem selbst beginnt. Einerseits verlangen wir als Kunden ein volles Regal und optisch einwandfreie Lebensmittel, andererseits gebären wir uns als grüne, bioversessene Gutbürger und empören uns über weggeworfene, noch essbare Lebensmittel. In puncto Einkauf, Konsum, Wasser- und Stromverbrauch kann und muss jeder aus der Gesellschaft etwas beitragen. Es reicht nicht einmal in vier Jahren ein Kreuz zu machen und zu erwarten, dass die Klimaziele aus Paris und Katowice dann von allein erreicht werden. Es ist bezeichnend für unsere Gesellschaft, dass der Begriff „Aktivismus“ meist in negativer Konnotation gebraucht wird. „Nicht: es muss etwas geschehen! Sondern: Ich muss etwas tun.“ Große Worte des Widerstandskämpfers und Mitglieds der Weißen Rose Hans Scholl, die nicht nur in einer Diktatur wie dem NS-Regime zutreffen, sondern uns allen zur Maxime werden sollten. Es beginnt mit den vermeintlich kleinen, alltäglichen Dingen, mit denen wir etwas ändern können. Weniger kaufen, weniger wegwerfen. Sparen lernen. Den Wert der Lebensmittel wieder schätzen lernen. Denn mit den Lebensmitteln werfen wir unsere Werte gleich mit in den Abfall.