Andrea Nahles ist weg und die SPD wird zur Kleinpartei, Kramp-Karrenbauer und die CDU präsentieren ein Kommunikationsdesaster vom allerfeinsten, Umfragen sehen die Grünen vor der Union, eine große Koalition wäre nach Neuwahlen wahrscheinlich Schwarz-Grün, oder vielleicht sogar Grün-Schwarz, kurzum: Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen in diesen politisch disruptiven Zeiten.
Ganz vorne dabei wenn es um Disruption geht ist die altehrwürdige Sozialdemokratie, denn es besteht zu jeder Zeit die Gefahr, dass sich aus dem angestauten Frust über die GroKo eine starke Bewegung von der Basis her entwickeln könnte, die in Form einer neuen #noGroKo-Kampagne die Regierungskoalition zur Halbzeitpause oder sogar noch davor platzen lassen könnte.
So mehren sich die Stimmen in der Sozialdemokratie, die den einzigen Ausweg aus dem chronischen Tief der SPD mit einem Europawahlergebnis von 15 Prozent und Umfragewerten von 12 Prozent in einer Radikalkur sehen. Man könnte also meinen, der jüngste Rücktritt der ersten Vorsitzenden der SPD käme dem Chef der #noGroKo-Kampagne, dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, gelegen, doch dem ist höchstwahrscheinlich mitnichten so. Denn Kühnert hätte Nahles wahrscheinlich wesentlich lieber gemeinsam mit der GroKo auf dem Parteitag Ende des Jahres abserviert. Wäre Nahles geblieben, hätte Kühnert klare Fronten und eine klare Gegnerin für den Parteitag gehabt, die er hätte angreifen und wahrscheinlich auch sehr öffentlichkeitswirksam hätte stürzen können.
Doch nun richten sich – für Kühnerts Pläne eigentlich zu früh – auch viele Augen auf ihn. Ob der Juso-Chef in dieser schwierigen Lage der deutschen Sozialdemokratie jedoch überhaupt den Parteivorsitz übernehmen will oder anderen den Vortritt zum, wie Franz Müntefering einmal sagte, „schönsten Amt neben dem Papst“ lassen will, weiß nur er selbst – und wir frühestens, wenn sich die SPD auf ein Verfahren zur Wahl ihres neuen Spitzenpersonals geeinigt hat. Falls er tatsächlich Ambitionen in diese Richtung hegt muss er auf die Unterstützung an der Basis setzen, denn die meisten Funktionäre und Parteispitzen sind Kühnert nicht allzu wohlgesonnen und bezeichnen einen Vorsitzenden Kühnert wie Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück als „vollkommen übertrieben“ und „Wahnsinn“.
Wenn wir schon von wohlgesonnen Parteifreunden sprechen – Andrea Nahles hatte zuletzt fast keine mehr. So soll sie, wie ihr Umfeld verlauten ließ, von ihren innerparteilichen Gegnern „systematisch sturmreif geschossen“ worden sein. Doch Nahles hatte ohne ausreichenden Rückhalt sowieso keine Zukunft an der Parteispitze mehr. Denn sicherlich wollten einige in der SPD die strauchelnde Vorsitzende einzig und allein halten, um sie nach den voraussichtlich desaströsen Wahlergebnissen in Ostdeutschland die Verantwortung übernehmen und dann zurücktreten zu lassen.
Die Verantwortung, die Nahles hätte übernehmen sollen, wird nun also auf ein Spitzentrio verteilt, das ja sowieso nur kommissarisch im Amt ist und dadurch gefühlt noch weniger Verantwortung trägt. Dadurch bleibt kein kommendes Ergebnis, sei es auch einstellig, an einer Person hängen und es wird kein weiteres Personal verschlissen, dafür nimmt die SPD aber in Kauf, für mindestens ein halbes Jahr quasi kopf- und führungslos zu sein.
Doch trotz personellen Turbulenzen und fast garantierten Abstürzen bei den drei kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland wird die GroKo mindestens bis zur Halbzeit und eventuell sogar noch länger halten. Denn der Kitt, der die Koalitionäre zusammenhält, ist ein sehr starker: Angst. Die Angst, dass die jüngsten Umfragen durch Neuwahlen zur politischen Realität werden könnten und die Angst, dass die Union hinter den Grünen und die SPD hinter der AfD landen könnte.
Nicht nur die SPD ist in heftigen Turbulenzen, auch die CDU mit ihrer Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer muss sich warm anziehen. Denn falls der SPD Parteitag die GroKo zur Halbzeit platzen lässt und die Grünen sich einer Regierungsbildung verweigern und so Neuwahlen erzwingen wird die einzige verbliebene Volkspartei mit herben Verlusten und vielleicht sogar nur dem zweiten Platz rechnen müssen.
Deren Vorsitzende Kramp-Karrenbauer befindet sich in einer Zwickmühle: Entweder sie blinkt rhetorisch nach rechts, bindet innerparteilich vielleicht einen Teil der Merz-Unterstützer wieder ein und verliert eventuell einen Ticken weniger Wähler an die AfD, macht sich dafür aber bei der Liberalen und Progressiven in der Union unbeliebt und nimmt in Kauf, viele Wählerstimmen an die Grünen zu verlieren oder aber sie macht das Gegenteil, in welchem Falle die CDU ebenso Wähler verlieren würde.
AKK ist durch Merkels Stärke in einer sehr schwierigen Position, denn wo Merkel es geschafft hat, die Flügel der CDU einigermaßen unter Kontrolle und auf Linie zu halten, klafft nun eine Lücke, die AKK nicht schließen kann. Da die CDU mehr von der Macht und ihrem Führungspersonal als von den Inhalten lebt, wäre für AKK ein Amtsbonus bei Neuwahlen immens wichtig, doch den wird sie nicht bekommen. Denn die SPD hat klar gemacht, dass sie keinesfalls mitten in einer Legislaturperiode einen Wechsel im Kanzleramt zuzulassen wird.
Ein zweiter Anlauf für Jamaika unter einer Kanzlerin AKK würde diesmal nicht an der FDP scheitern, denn die Liberalen haben im Angesicht der letzten Umfragen plötzlich einen Regierungswillen entdeckt – so wäre die Partei von Christian Lindner nach Neuwahlen wahrscheinlich für keine Regierungsmehrheit mehr notwendig. Ein zweiter Anlauf würde an den Grünen scheitern, die mit der Aussicht, nach Neuwahlen den oder die Kanzler/in zu stellen sicher keine Koalition als kleinster Partner eingehen würden. Denn die Grünen landeten in den letzten Umfragen nicht nur vor der Union, womit sie die stärkste Partei im Bundestag werden könnten, auch sprechen sich mit 51% mehr als doppelt so viele Menschen für Robert Habeck als Kanzler als für AKK als Kanzlerin aus, für die nur 24% votieren.
Doch, wer hat eigentlich gesagt, dass Habeck der erste grüne Kanzlerkandidat sein muss? Bei den Grünen, die sich als feministische Partei verstehen, bekommt nämlich bei gleicher Eignung eigentlich immer die Frau den Vorzug. Nominierten sie also Habecks Co-Vorsitzende Annalena Baerbock, wären sie ihren Prinzipien treu geblieben, würden sie Habeck nominieren, würden sie aufgrund seiner größeren Bekannt- und Beliebtheit wahrscheinlich ein besseres Ergebnis einfahren.
Zugespitzt könnte man also sagen, die Grünen müssen bei ihrer Nominierung zwischen ihren eigenen Prinzipien und potentiell mehr Macht wählen. Doch die Spitzengrünen halten sich mit jeglichen Statements zur Personalie eines grünen Kanzlerkandidaten oder einer grünen Kanzlerkandidatin zurück: So konterte Jürgen Trittin zum Beispiel die Frage des Spiegels, wer der/die Kandidat/in sein sollte, mit einer Aussage à la: “Robert könnte besser Kanzler, Annalena wäre die bessere Kanzlerin”.
Doch trotz ihres Umfragehöhenfluges geben sich die Grünen relativ bescheiden; so hört man immer wieder, was etwa das Ergebnis bei der Europawahl für ein Vertrauensvorschuss gewesen sei und dass man dieses Vertrauen nicht enttäuschen dürfe. Auch das ist eines der Erfolgsrezepte von Habeck und Baerbock: der neue, abgeklärter und bodenständiger wirkende Stil der Ökopartei.
Man könnte meinen von der Schwäche der Volksparteien würde neben der AfD auch der linke Rand profitieren, doch dem ist nicht so. Denn die Linke wird ohne ihre Gallionsfigur Sahra Wagenknecht nicht von der Schwäche der SPD profitieren können, in der Partei haben nämlich mit Katja Kipping und Bernd Riexinger nun diejenigen das Sagen, die die Linke auf eine kosmopolitische Wählerschaft ausrichten wollen, während Wagenknecht eher die sozial abgehängten Schichten unter anderem mit einem härteren Kurs in der Migrationspolitik ansprechen wollte. Damit zielt die Linke auf ein ähnliches Klientel wie die Grünen ab.
Diese haben allerdings mit ihrem positiven Mitte-Links Kurs wesentlich mehr Erfolg als die Linken mit ihren teilweise utopischen Forderungen und ihrer negativen Weltsicht und das alles, während den Protest- und Trotzwählern nur der Populismus von Rechts bleibt.
Wenn die Entwicklung der deutschen Politiklandschaft so wie beschrieben vonstatten geht und sich auch so fortsetzt dürfte wohl die nächste Bundesregierung aus der Union und den Grünen bestehen, vorausgesetzt es besteht nicht die Möglichkeit für G2R, also Grüne, SPD und die Linke. Beides wäre auf Bundesebene ein Novum. So oder so: es wird spannend…