Das letzte Feigenblatt

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić bei der Militärparade zum “Tag des Sieges” in Moskau wenige Tage nach der Wahl – Bild: kremlin.ru, Wiki Commons, (CC BY 4.0)

Die Serbische Fortschrittspartei SNS (EVP) hat die Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag (21.06) gemäß allen Erwartungen und Umfrageergebnissen in einem Erdrutschsieg gewonnen. Im vorläufigen Ergebnis liegt die rechtspopulistische Regierungspartei bei mehr als 60% der Stimmen und voraussichtlich etwa Dreiviertel der Parlamentsmandate.

Die Wahlbeteiligung erreichte einen historischen Tiefstand von – je nach dem, wen man fragt – 45 bis 50%. Neben dem Regierungsbündnis der SNS, seinem ehemaligen Koalitionspartner, der Sozialistischen Partei SPS (*S&D), und der rechtsgerichteten Serbischen Patriotischen Allianz SPAS (*), werden lediglich eine Handvoll Abgeordnete von Minderheitsparteien in die Nationalversammlung einziehen.

Die wichtigsten Oppositionsparteien, allen voran die Allianz für Serbien (*S&D/Renew/EVP), hatten zum Boykott der Wahlen aufgerufen. „Es ist klar, dass es in Serbien keine Voraussetzungen für faire und freie Wahlen gibt“, begründete Dragan Đilas, einer der Gründer des größten Oppositionsbündnisses, in einem Gastbeitrag bei EURACTIV dieses Vorgehen.

Schon ohne den Boykott der Opposition, wären die Wahlen ein ungleicher Kampf gewesen. David gegen Goliath bzw. gegen Vučić. Die Partei des Präsidenten, SNS, hat in den letzten Monaten keinen Zweifel daran gelassen, wer der starke Mann im Staat, der Vater der Nation ist. Alexsandar Vučić regierte Serbien ab 2014 zunächst als Ministerpräsident und wurde 2017 schließlich zum Staatsoberhaupt gewählt. Unter seiner Ägide hat sich das Westbalkan-Land von einer halbwegs stabilen Demokratie zu einem illiberalen Hybridregime entwickelt, das auf der Demokratie-Skala der amerikanischen NGO Freedom-House weiter in Richtung eines autoritären Regimes abrutscht.

Der Präsident ist allgegenwärtig. Auf Plakaten, im Fernsehen, im Internet, in Moskau, Brüssel und Washington. Sogar die Wahlliste der SNS hieß „Alexsandar Vučić – Für unsere Kinder“, obwohl er weder zur Wahl stand (und es auch nicht dürfte) und als Präsident eigentlich über dem Parteienwettstreit stehen müsste.

Ein wirklicher Wahlkampf fand auch nicht statt. Aufgrund der Corona Pandemie wurden alle Wahlkampagnen ausgesetzt. Das hielt die Regierungsparteien SNS und SPS nicht davon ab, trotzdem einige (kleine) Wahlkampfveranstaltungen zu organisieren, bei denen dem Abschlussbericht der OSZE-Beobachtermission zufolge nachweislich Abstandsregeln missachtet wurden.

Bereits vor der Corona-Pandemie dominierten die Regierung und Vučić die nationalen Medien und bestimmten den Diskurs (sofern er überhaupt stattfand). Es gibt nur einen großen unabhängigen Fernsehsender, den auch nur die Hälfte der serbischen Haushalte empfangen kann und auch nur dort, wo die Netze nicht von der staatseigenen Telekom betrieben werden.

Durch den Boykott der Opposition und den Amtsbonus in Krisenzeiten wurden Vučić und seine Partei praktisch zu den einzigen politischen Akteuren in den Medien. Zunehmend verschwammen die Grenzen zwischen den Amtspflichten und inoffiziellen Wahlkampfauftritten des Präsidenten.

Wenige Tage vor der Wahl deckte das Balkan Investigative Reporter Network ein Bot-Netzwerk auf, in dem seit mindestens einem Jahr täglich weit über 1.000 Nutzer im Auftrag der Regierungspartei, die Politik des Präsidenten und seiner Partei in den sozialen Netzwerken propagieren. Die Recherche des Investigativ-Netzwerks ergab, dass viele dieser Aktivitäten von Mitarbeitern staatlicher Betriebe und im öffentlichen Dienst zum Teil vom Arbeitsplatz aus und damit auf Staatskosten durchgeführt wurden. Bereits im April gab Twitter bekannt, fast 9.000 Accounts gelöscht zu haben, die sich an „koordinierter Aktivitäten […] zur Unterstützung der Regierungspartei und ihres Vorsitzenden beteiligt hatten“.

In der Nationalversammlung setzte die SNS in den letzten Jahren alles daran, die Rolle der Legislative zu marginalisieren. Das Regierungslager sabotierte und verhinderte Debatten, inszenierte Hetzkampagnen gegen Oppositionspolitiker, aber auch gegen öffentliche Amtsträger wie Richter. Fast die Hälfte aller zwischen 2016 und 2019 beschlossenen Gesetze jagte die Regierung im Eilverfahren durchs Parlament. Seit Herbst 2018 boykottieren große Teile der Opposition die Parlamentssitzungen.

Während der Corona-Pandemie schließlich erreichte die parlamentarische Demokratie in Serbien einen neuen Tiefpunkt. Unter Berufung auf die Corona-Schutzmaßnahmen, nach denen Versammlungen von mehr als 50 Personen verboten sind, ließ Präsident Vučić den Notstand nach Rücksprache mit Premierministerin Brnabić  und Parlamentspräsidentin Gojković (beide SNS) ohne vorherige Parlamentsabstimmung ausrufen. Erst nach fast zwei Monaten kam die Nationalversammlung wieder zusammen, um allen von der Regierung ergriffenen Maßnahmen, inklusive der Ausrufung des Notstands, rückwirkend zuzustimmen. Serbien dürfte das einzige Land in Europa sein, in dem das Parlament während der Pandemie de facto keine Rolle spielte (Selbst in Ungarn musste das Ermächtigungsgesetz Victor Orbáns zunächst vom Parlament bewilligt werden).

Aus den Wahlen am vergangenen Sonntag dürfte die serbische Legislative wohl kaum gestärkt hervorgehen. Die Abwesenheit wirklicher innerparlamentarischer Opposition und eine verfassungsändernde Mehrheit geben der Regierung reichlich Spielraum, so dass sich das Kräfteverhältnis im Staat mutmaßlich noch weiter zu Gunsten der Exekutive und damit de facto zu Vučić verschieben wird.

Allerdings kann ein so schwaches und antipluralistisches Parlament auch nicht mehr als demokratisches Feigenblatt herhalten, was insbesondere für die Beitrittsverhandlungen mit der EU zum Hindernis werden könnte. Noch im Februar und damit zwei Monate vor dem ursprünglichen Wahltermin, der aufgrund der Corona-Pandemie verschoben wurde, senkte die Regierung deshalb die Sperrklausel von 5% auf 3% in der Hoffnung, dass so zumindest einige, vielleicht sogar pro-europäische Oppositionsparteien ins Parlament einziehen würden.

Vorläufige Wahlergebnisse (80% ausgezählt) aller Wahllisten – Quelle: Europe Elects, Twitter

Das erwies sich bekanntermaßen als Fehlkalkulation. Die monarchistische, pro-europäische Bewegung zur Wiedererrichtung des Königreichs Serbiens POKS und die euroskeptische, reformistische DJB (“Dosta je bilo – Restart” – “Genug ist genug – Neustart”/EKR) verpassten die neue Sperrklausel knapp um 10.000 bis 20.000 Stimmen.

Für reichlich Aufsehen und Skepsis sorgte daher die Entscheidung der nationalen Wahlkommission, die Wahl aufgrund von Unregelmäßigkeiten in über 200 Wahllokalen für mehr als 200.000 Serben zu wiederholen. Die Opposition vermutet dahinter einen erneuten Versuch der SNS, noch weitere Parteien ins Parlament zu hieven, um sich eines der letzten demokratischen Feigenblätter zu erhalten.

Zwischenfälle und Unregelmäßigkeiten – von der Verletzung des Wahlgeheimnisses bis hin zu Stimmkauf oder Drohungen gegen Wähler – gab es den Wahlbeobachtern der NGO CRTA zufolge bei 8% bis 10% der Wahllokale. Alle eingereichten Beschwerden der Wahlbeobachter wurden von der Wahlkommission abgelehnt. Etwaige Änderungen im endgültigen Wahlergebnis dürften für Sitzverteilung und Machtverhältnisse im Parlament jedoch höchstens kosmetischer Natur sein.

Der Boykott der Parlamentswahlen könnte sich für die Opposition trotz des mäßigen Erfolgs auf lange Sicht als strategischer Fehler erweisen. Es ist fraglich, ob sich die tiefgespaltene Allianz für Serbien unter den erschwerteren Bedingungen der außerparlamentarischen Opposition bis zu den Präsidentschaftswahlen 2022 zu einer stabilen politischen Kraft konsolidieren kann. Im Gegensatz zur SNS (EVP) verfügen zudem nur wenige serbische Oppositionsparteien über die Unterstützung von europäischen Parteifamilien.

Donald Tusk, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei und ehemaliger Präsident des Europäischen Rates, gratuliert der SNS und Vučić zum Wahlsieg.

Die SNS und Präsident Vučić gehen gestärkt aus den Wahlen hervor und können ihre Politik langfristig und konstitutionell verankern. Ein demokratischer Kurswechsel in der Regierungspolitik erscheint unwahrscheinlich, zumal Vučić weiterhin Rückhalt aus Moskau genießt und Kritik aus Brüssel bislang allenfalls verhalten kommt.

Mit dem “Wiederaufbau” nach der Corona-Pandemie, den Friedensverhandlungen mit dem Kosovo und den EU-Beitrittsgesprächen stehen nun zukunftsweisende Entscheidungen an, mit denen Vučić Serbien und den ganzen Westbalkan bis weit über seine Ägide hinaus prägen wird.

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