Wie wir die Demokratie retten Immer mehr Menschen misstrauen Politiker*innen und der Demokratie an sich. Ideen für eine Erneuerung des alten Systems...

kisistvan77 und Pexels auf Pixabay, Bastian Weber

Ein Vormittag in Stuttgart. Ich bleibe an einer roten Ampel stehen. Mein Blick fällt auf einen schwarz-grünen Sticker der Bewegung Extinction Rebellion. Auf dem Sticker stehen die Forderungen der Bewegung in weißer Schrift auf schwarzem Grund: 

3. Politik neu leben Die Regierung muss eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Die Regierung muss nach deren Beschlüssen handeln.” 

Auf meinem Weg denke ich besonders über diese Forderung nach. Offenbar gibt es nicht nur ein Problem mit den Ökosystemen unseres Planeten, sondern auch ein Problem mit unserer Demokratie. Ich frage mich, wie wir aus dieser Klima-Demokratie-Krise rauskommen könnten, die uns vor Problematiken unseres Menschseins auf diesem Planeten stellt, zugleich aber auch die Frage nach der Funktionalität unseres repräsentativen Demokratiesystems aufwirft. 

Kurze Zeit später sehe ich im Internet ein Wahlplakat der AfD: “Direkte Demokratie – Bürgerdemokratie kommunal und auf Landesebene!”. Gar nicht so weit entfernt vom Begriff der “Bürger:innenversammlung” von Extinction Rebellion. Selbstverständlich darf man die riesige inhaltliche  Diskrepanz der beiden Bewegungen nicht infrage stellen. Es ist allerdings spannend, dass sowohl von nationalistischer als auch von links-grüner Seite die Forderung nach mehr Mitbestimmung der Bürger*innen erhoben wird. Ein Blick auf die Statistik lässt daran keinen Zweifel. 72% der Deutschen wünscht sich  mehr Elemente direkter Demokratie. 

Ist unsere Demokratie in der Krise?

Immer mehr Menschen in Deutschland misstrauen Politiker*innen stärker als früher. Nur noch 24 Prozent der Menschen haben Vertrauen in die Bundesregierung. Ein Drittel der Deutschen ist der Meinung, dass wir auf eine Krise zusteuern, die mit den derzeitigen politischen Möglichkeiten nicht zu lösen ist. 42 Prozent der befragten Bürger*innen in Ostdeutschland geben an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei. Die restlichen 58 Prozent wünschen sich demnach eine andere bzw. weiterentwickelte Form der Demokratie. Es gibt also eine Vertrauenskrise in unsere Demokratie. Wäre dieses Vertrauensverhältnis von Wähler*in zu Politiker*in auf einem Facebook-Profil angegeben, stünde dort: “Es ist kompliziert”. 

Zu dieser Vertrauenskrise gesellt sich eine “Repräsentationskrise”. Der Akademikeranteil im Bundestag liegt bei 80 Prozent, während in der Bevölkerung etwa 20 Prozent einen Hochschulabschluss haben. Ähnliches zeigt sich bei Betrachtung des Frauenanteils: 219 von 709 Abgeordneten sind Frauen. 21 von ihnen sind unter 30 Jahre alt.

Kann ein Parlament nicht Abbild der Gesellschaft sein?

 Momentan leben wir Demokratie in einer sogenannten “substanziellen” Vertretung: die inhaltliche Vertretung der eigenen Meinung durch eine*n Politiker*in, die*der nicht zwangsläufig aus dem selben gesellschaftlichen Umfeld wie ich selbst stammen muss. Die Zeit der Zustimmung zur substanziellen Vertretung mag vorbei sein, wenn immer häufiger Rufe laut werden nach Frauen- bzw.  Ost(-deutsche*n)quoten oder Migrant*innenquoten. Ziel kann eine sogenannte deskriptive Vertretung sein, in der meine Meinung inhaltlich übereinstimmt mit einer*m Politiker*in, die soziale Schnittmengen mit mir als Wähler*in hat. Wie beispielsweise dasselbe Geschlecht, Milieu oder Herkunft.

Immer weniger Menschen gehen zur Wahl. Ein Grund zur Sorge für unsere Demokratie.

Hinzu kommt, dass die Wähler*innen scheinbar immer weniger Lust haben, auf Demokratie. Die Mitgliedszahlen der Parteien sinken rapide: Wenn der Trend weiterläuft hat die SPD 2037, die CDU 2047 gar keine Mitglieder mehr. Die Wahlbeteiligung von 61,4 Prozent an der letzten Europawahl wurde gefeiert. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen: Was gibt es zu feiern, wenn knapp die Hälfte der Bevölkerung nicht zur Wahl geht? Der Trend zum Rückgang der Wahlbeteiligung lässt sich ebenso auf die Bundestagswahl, wie – in deutlich drastischerem Ausmaß – auf die Kommunalwahlen übertragen.  Das ist die Gretchenfrage unserer auf Wähler*innen basierenden Demokratie: Was passiert, wenn niemand mehr Lust hat aufs Wählen? Ich bin überzeugt, dass unsere Antwort auf diesen erschreckenden Trend nicht weniger sondern mehr Demokratie sein muss.

Die repräsentative Demokratie ist veraltet

Spätestens jetzt müssen wir uns die Frage stellen, wie wir eine Demokratie partizipativer gestalten können als aktuell; wie man mehr ermöglichen kann, als das Wählen. 

Die Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes zeig(t)en mit ihrem Werk eines ganz deutlich: Nie wieder Faschismus! Um dies konstitutionell zu manifestieren legen sie die Macht der neuen Republik in die Hände von Parteien. Dem zugrunde liegt nichts anderes als die Idee, einer Abgabe von Entscheidungsverantwortung des Souverän an eine bestimmte Anzahl von Bürger*innen, die sich – in Parteien organisiert – zur Wahl stellen. Partizipation war folglich beschränkt auf den Wahlsonntag alle paar Jahre und – im seltensten Fall – auf die Bürger*innensprechstunden der gewählten  Abgeordneten. 

Eine praktikable Lösung für eine funktionierende Demokratie. Was ist daran nun problematisch? Wie oben beschrieben sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestags nur formal Repräsentant*innen des deutschen Volkes. Zudem entsteht eine Art “Entscheidungselite”, die in letzter Zeit vor allem von nationalistischer Seite heftig kritisiert wird. Gleichzeitig sinkt das Vertrauen und somit die Wahlbeteiligung. 

Doch wie weiter?

Es lohnt ein Blick in die Vergangenheit, ins Land der “Wiege der Demokratie”, das antike Griechenland, genauer gesagt: nach Athen. Im 5. Jahrhundert vor Christus tagte hier regelmäßig die Volksversammlung, Ecclesia genannt. Mindestens 6.000 (Männer) mussten anwesend sein, damit diese Ecclesia beschlussfähig war. Alle Athener konnten ihre Anliegen einbringen, beraten wurde über Kriege, Getreideversorgung oder Tempelneubau. 

Organisiert wurde die Ecclesia von einem Rat der 500, der die Tagesordnung festlegte und Beschlussvorlagen erstellte. Ihre Mitglieder wurden per Zufall bestimmt. Diese Art der Ämtervergabe entstammte nicht irgendeiner alten Tradition, sondern dem Glauben, dass der gesunde Menschenverstand ausreicht, um über politische Themen zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. 

Dieses attische Demokratieverständnis zeigt uns, dass das Losverfahren alles andere ist, als eine lächerliche Methode. Vor einiger Zeit hat das konservative Irland gezeigt, wie sich das attische Losverfahren in die heutige Zeit übertragen lässt. 

Die Ir*innen bestimmten 2016 die Citizen’s Assembly. 99 Ir*innen treffen sich, um über die Abtreibungsfrage zu diskutieren. An mehreren Wochenenden diskutieren die ausgewählten Bürger*innen in Kleingruppen, hören Vorträge von Professoren aus aller Welt, lassen betroffene Frauen zu Wort kommen und formulieren schließlich genaue Empfehlungen für ein Gesetz, die vom Parlament weitestgehend übernommen werden. 

Die Akzeptanz für das neue Gesetz ist hoch in Irland. Ein geschickter Schachzug der Politiker*innen: Man nimmt Hitze aus der politischen Diskussion, indem man sie dem Volk überlässt. Durch diese Art des Übertragens von politischer Aus- und Verhandlung auf die Bevölkerung entsteht gleichzeitig eine große Akzeptanz. 

“Das Volk hat gesprochen”. 

Brauchen wir Bürgerentscheide à la Schweiz?

Anders als bei den Ir*innen pflegt die Schweizer Demokratie ein interessantes System der Bürgerentscheide. Jede*r Bürger*in kann mit vergleichsweise wenigen Unterschriften ein Bürgerbegehren starten, über das abgestimmt wird. Landesweit. Während in Deutschland bundesweite, sachbezogene Bürgerentscheide unmöglich sind.

Die AfD hat am 13. August 2019 einen Gesetzentwurf für die Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene vorgelegt. Dabei bedenkt sie unter anderem nicht, dass eine juristische Prüfung von Volksbegehren sinnvoll wäre, um die Grundrechte und die Verfassungskonformität zu gewährleisten.

Das Schweizer Modell sollte nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen werden. Eine juristische Prüfung (beispielsweise) durch das Bundesverfassungsgericht wäre durchaus erstrebenswert, um die Verfassungsmäßigkeit, sowie Minoritätenrechte sicherzustellen.
Darüberhinaus will die AfD Abstimmungsrechte nur „allen Deutschen“ zugestehen. Die AfD schlägt außerdem vor, dass die Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern „allgemeine Fragen zur Entscheidung im Volksentscheid vorlegen“ können soll. Die Hürde für Volksbegehren liegt im Vorschlag der Rechtsnationalisten mit ca. 6mio nötigen Unterschriften relativ hoch.

Die plakative Forderung nach „mehr direkter Demokratie“ mag ein guter Gedanke sein. Allerdings ist er, wie ihn die AfD formuliert, fragwürdig. Neben der juristischen Prüfung von Volksbegehren wäre es erstrebenswert, alle Betroffene – egal welcher Nationalität – miteinzubeziehen.
Des weiteren bergen vorformulierte Fragen ein enormes Manipulationspotenzial seitens der Regierung, weshalb ich auch hier Zweifel anmelden will. Möchte die Regierung die Meinung der Bevölkerung zu einem bestimmten Sachverhalt wissen, wären Bürger*inneninitiativen doch das bessere Mittel.

Es lässt sich festhalten, dass die AfD in ihrer Forderung zu kurz greift und entscheidende Punkte außen vor lässt.

Wer macht mit?

Es stellt sich ebenfalls beim Schweizer Modell die Frage: Wer macht mit? Ein berechtigter Einwand ist, dass sich auch in der Schweiz eher gehobene soziale Schichten an den Referenden beteiligen. Deshalb kann das Referendum es alleine in Deutschland nicht richten. Wir brauchen mehr. Einen Ort der Verständigung aller gesellschaftlichen Milieus, die Bürger*innenversammlungen, die Empfehlungen an die Regierung formulieren (deliberatives Element), Bürgerentscheide (plebiszitäres Element) und die klassische repräsentative Demokratie. Der Einsatz von Bürgerentscheiden und Bürger*innenversammlungen muss mit Bedacht gewählt sein. Es muss um die strittigsten, elementarsten Fragen unseres Landes gehen. 

Die Zeit ist reif für Veränderung. Die Krise unserer Demokratie zeigt: Eine rein repräsentative Demokratie ist nicht mehr zeitgemäß. Wir sollten unsere Demokratie auf drei Säulen bauen. Repräsentative Elemente, plebiszitäre Elemente (Bürgerentscheide) und deliberative Elemente (Bürger*innenversammlungen). 

So gesehen kann es nur mit einer Synthese aus mehr direkter Demokratie und Bürger*innenversammlungen gehen. Der Vorschlag der AfD greift viel zu kurz, verfehlt gar die Idee einer wirklich partizipativen Demokratie. Dennoch ist der Kern von “direkter Demokratie” der AfD und “Bürger*innenversammlungen” von Extinction Rebellion ein gleicher: Wir wollen mehr entscheiden!

Das sollten wir ernst nehmen.

Schreibe einen Kommentar
Ähnliche Artikel
Mehr lesen

Bürgergeld, Mindestlohn und Kindergrundsicherung Wie die SPD den Sozialstaat reformieren will...

Die SPD befindet sich in einer Zeit der politischen Talfahrt. 2019 stehen neue Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen, Bremen und Brandenburg, sowie die Europawahl bevor. Schafft es die SPD ihr soziales Profil zu stärken und im Superwahljahr 2019 endlich Erfolge einzufahren? Mit dem kürzlich vorgestellten Reformpapier "Sozialstaat in Arbeit" soll es bei den Genossen nun wieder bergauf gehen. Eine Analyse von Adrian Lächele.