Guten Abend,

Tief auf dem Boden des Atlantiks verläuft der Mittelatlantische Rücken. Ein Spalt in der Erdkruste, der die Kontinente beiderseits auseinander drückt. In normalen Zeiten entfernen sich Europa und Amerika dadurch jährlich um etwa 2,5 cm voneinander, unter Donald Trump hat sich diese Entwicklung verzehnfacht. Mit der neuen Biden-Administration rollen jetzt die Bagger an, um den Graben wieder zu zuschütten, zumindest aber, um die eingerissenen Brücken wieder aufzubauen. Und damit herzlich Willkommen zu EUROPE IN-SIGHT, unserem wöchentlichen Blick über den Tellerrand, nach Europa und in die Welt, die es umgibt.

Wir kümmern in dieser Ausgabe also um das transatlantische Verhältnis zwischen Kooperation und Konkurrenz, um die Nachbereitung der Neujahrsturbulenzen von letzter Woche, um deutsche Milch in tschechischem Kaffee und natürlich um den kleinen Pieks, der diese leidige Pandemie beenden soll…

Diese und mehr Themen in unserem EIN-BLICK EUROPA. Bleiben Sie gesund!

Brüssel und Washington: Kooperation und Konkurrenz

&  EU & uSA

Kooperation und Konkurrenz

“Once again, after four long years, Europe has a friend in the White House.”

Ursula von der Leyen, EU Kommissionspräsidentin (EVP)

Doch das zukünftige Verhältnis zwischen alter und neuer Welt wird wahrscheinlich eine Mischung aus Kooperation und Konkurrenz. Auf beiden Seiten herrscht die Klarheit, dass sich an den grundsätzlichen Problemen im transatlantischen Verhältnis (Handel, Militärausgaben, China) zunächst einmal nichts ändern wird. 

Beginnen wir mit der Kooperation: Hier hat die EU fünf Kernthemen ausgemacht: Den Kampf gegen COVID-19, den Klimaschutz, die multilaterale Zusammenarbeit, den Wiederaufbau der Wirtschaft und das gemeinsame Engagement für Sicherheit und Frieden

Noch am Tag der Amtseinführung riefen Europaparlamentarier die Kommission dazu auf, die diversen Handelsstreitigkeiten beizulegen, z.B. den Streit um Staatshilfen für Airbus und Boeing. Der Hintergrund: Die WTO hatte den USA erlaubt wegen unerlaubten EU-Subventionen für Airbus Zölle in Höhe von 6,8 Mrd. Euro zu erheben. Brüssel reagierte darauf wiederum mit Zöllen von 4 Mrd. Euro. Als erste kleine Geste des Friedens kann wohl die Entscheidung der EU gelten, die Zölle auf US-amerikanischen Hummer (nicht die Geländewagen, die Meerestiere) zu streichen.

Im Vordergrund der Kooperation steht auf jeden Fall der Klimaschutz. Denn mit dem Ziel der Emissionsfreiheit bis 2050 segeln EU und USA nun gemeinsam auf einem Kurs.

Bei aller Euphorie scheint die Angst, dass es vom Trumpschen Handelskrieg über Stahl und Aluminium zu einem neuen Handelskonflikt wegen Klimazöllen kommen könnte, nicht völlig abwegig. Doch die Hoffnung bleibt, dass die Konkurrenz zu einem gesunden Wettbewerb um die besten Konzepte führt. 

Die Biden-Administration hat bisher keine CO2-Grenzsteuer angekündigt, im Gegensatz zur EU, die klargemacht hat, dass sie einen Binnenmarkt mit CO2-Preis auf jeden Fall durch einen Klimazoll schützen wird.

Die Kommission will außerdem gemeinsam an globalen Regularien für die Digitalwirtschaft arbeiten. Die ungezügelte Macht der Tech-Giganten müsse eingehegt werden, so die Kommissionspräsidentin. Auch ein nicht ganz konfliktfreies Themenfeld.

“On the first day of his mandate, I address a solemn proposal to the new president: Let’s build a new founding pact for a stronger Europe, for a stronger America and for a better world”

Charles Michel, EU Ratspräsident (Renew)

Doch die EU bestimme ihren Kurs selbst und werde nicht auf die Erlaubnis warten, eigene Entscheidungen treffen zu dürfen, so Ratspräsident Charles Michel (Renew). Ganz offensichtlich der Ausdruck eines neuen globalen Selbstbewusstseins der EU. 

Andererseits dürfte insbesondere dem Ratspräsidenten klar sein, dass vor allem die Außenpolitik in den Hauptstädten gemacht wird. 

Wo Konfrontation anklingt, ist in der EU die Kooperation nicht weit. So will Michel möglichst zügig einen Gipfel mit Biden, den Regierungschefs der Mitgliedstaaten und der EU-Spitze organisieren. Auch weil die Sorge, dass der Trumpismus nach Biden wieder ins Weiße Haus einziehen könnte in Brüssel sehr real und die Erkenntnis, dass man sich auf Amerika nicht mehr wirklich dauerhaft verlassen kann angekommen ist. 

Europa muss sich also bewusst werden, was es will und wie es dorthin kommen kann, ohne dass Washington die Marschrichtung vorgibt. Vor allem aus Frankreich kommt diese Forderung nach mehr strategischer Autonomie. Denn die Themen die USA interessieren sich mehr und mehr für ihre Rivalität mit China und nicht mehr so stark für die sicherheitspolitischen Themen der EU, wie z.B. Terrorismus und Migration in Afrika und dem Nahen Osten.

Europa muss Balance finden zwischen den markigen Worten aus Paris und der stillschweigenden Hoffnung in Berlin, dass alles wieder so werde wie früher.

“Our determination is to be a strong ally of the United States, but an ally does not mean that we submit”

Bruno Le Maire, Französischer Finanzminister (LREM/Renew)

In Paris hat man das Ziel also klar vor Augen: die NATO auf zwei starke Säulen zu stellen und gute, gleichberechtigte Alliierte zu sein. Nicht mehr Amerikaner beschützen Europäer, sondern Amerikaner und Europäer “have each other’s back”, halten sich also gegenseitig den (Mittelatlantischen-)Rücken frei. bw

Eu-Politik

Impfen: Das Wichtigste in aller Kürze

Stand Sonntagabend wurden in der EU rund 8,47 Millionen Impfdosen verabreicht. Das entspricht etwa 1,9 Impfungen je 100 EU-Bürger*innen. Malta und Dänemark liegen mit 4,29 bzw. 3,51 je 100 Einwohner*innen deutlich vorne. EU-weite Schlusslichter sind die Niederlande (0,79) und Bulgarien (0,38).

Die nächste Hiobsbotschaft: Nach BioNTech/Pfizer hat diese Woche auch der britisch-schwedische Impfhersteller Astra/Zeneca Lieferengpässe bekannt gegeben. 

Die Lieferungen für das erste Quartal werden wohl bis zu 60% geringer ausfallen als geplant (31 Millionen Impfdosen statt 80 Millionen). Besonders problematisch sind die Lieferverzögerungen angesichts der Tatsache, dass viele Mitgliedsstaaten in ihren Impfstrategien vor allem auf den Astra/Zeneca-Impfstoff setzen. Der ist wesentlich preiswerter als die Produkte von Pfizer/BioNTech und Moderna und muss weniger stark gekühlt werden, was die Verteilung wesentlich vereinfacht.

Als Lockdown-Lektüre: Die EU-Kommission hat den Liefervertrag mit dem Impfhersteller CureVac ins Internet gestellt. EU-Parlamentarier*innen hatten die Veröffentlichung seit Wochen gefordert und konnten den zu großen Teilen geschwärzten Vertrag letzte Woche erstmals einsehen.

Entscheidende Stellen wie Preise und Liefermengen sind auch in der nun veröffentlichten Form unkenntlich gemacht. Allerdings geht aus dem Vertrag hervor, dass – wie von der Kommission immer wieder betont – die Haftung für etwaig auftretende Schäden nicht bei der EU-Kommission oder den Mitgliedsstaaten liegt. CureVac ist weiterhin das einzige der sechs Pharmaunternehmen, mit denen die EU Verträge abgeschlossen hat, der einer Veröffentlichung des Liefervertrags zugestimmt hat. vp

EUropäischer Rat

Europa sieht dunkelrot

Der erste Videogipfel der 27 Staats- und Regierungschef*innen in diesem Jahr brachte wenig Überraschungen, verlief dafür in fast überraschender Einigkeit. Angesichts der wenig positiven Entwicklungen, sowohl was das Infektionsgeschehen als auch den Start der Corona-Impfungen angeht, saß das Nervenkostüm vieler Politiker*innen spürbar eng. Die Ergebnisse der Videokonferenz in aller Kürze:

1. Schnellere Impfungen: Die Videokonferenz war für die EU27 eine willkommene Gelegenheit, ihrem Unmut über den schleppenden Impfstart Luft zu machen. Wenig überraschend daher der allgemeine Ruf nach schnelleren Impfstofflieferungen. Wie die Hiobsbotschaft von Astra/Zeneca zeigt, sind den Staats- und Regierungschef diesbezüglich vermutlich die Hände gebunden.

2. Dunkelrot: Das weiterhin besorgniserregende Infektionsgeschehen und die Verbreitung neuer Corona-Mutationen haben eine Erweiterung der europäischen Corona-Ampel unumgänglich gemacht. Neben den aktuellen Kategorien grün, orange und rot sollen nun auch besonders stark betroffene “dunkelrote” Regionen unterschieden werden. Denn aktuell ist fast ganz Europa rot. Für die betroffenen Regionen bedeuten die neue Kategorie vor allem strengere Testvorschriften und schärfere Einschränkungen für nicht notwendigen Reisen.

3. Keine Grenzschließungen: Weitgehende Einigkeit bestand darüber, die Binnengrenzen in der EU unbedingt offen zu halten. In der Tat wären die Folgen gerade für kleine Mitgliedsstaaten gravierend: In Luxemburg seien etwa 60% der Beschäftigten im medizinischen Bereich Grenzgänger, warnte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn (LSAP/S&D) im Interview mit dem Deutschlandfunk.

“Wenn Pendler nicht mehr täglich aus Deutschland nach Luxemburg kommen, […] dann bricht bei uns in Luxemburg das Gesundheitswesen zusammen.”

Jean Asselborn (LSAP/S&D), luxemburgischer Außenminister

Die Bundeskanzlerin versicherte noch am Donnerstagmorgen (21.01) in der Bundespressekonferenz, “dass flächendeckende Grenzkontrollen für uns die Ultima Ratio wären und dass wir viel tun werden, um zu versuchen, das zu verhindern.” Allerdings könnte das auch als Drohung aufgefasst werden. 

4. Impfausweis, ja. Reisen, vielleicht später: Die EU27 haben sich auch auf ein europäisches Impfzertifikat für bereits geimpfte EU-Bürger*innen geeinigt. Allerdings soll das Zertifikat zunächst ein rein medizinisches Dokument sein und lediglich die Corona-Impfung festhalten. Vertagt wurde die ethisch und politisch heikle Frage, ob das Dokument seiner Inhaberin auch Privilegien (oder, je nach Lesart, weniger Einschränkungen), wie Reisefreiheit in der EU, gewähren soll. Das fordern vorrangig südeuropäische Mitgliedsstaaten, die auf die Einnahmen aus dem Tourismussektor angewiesen sind. 

Die Verwendung dieses Zertifikats müsse man sehr sorgfältig abwägen, so Kommissionspräsidentin von der Leyen in der abschließenden Pressekonferenz. Bei dieser Abwägung spielen auch noch nicht sicher geklärte medizinische Fragen eine Rolle, wie zum Beispiel, ob die Impfung auch vor der Weitergabe des Virus schützt oder wie lange der Impfschutz anhält. vp


Neues von den Regierungskrisen

Wir haben letzte Woche über die multiplen Regierungskrisen in der EU berichtet, die schon in der zweiten Jahreswoche zum vorzeitigen Ende von nicht weniger als drei Regierungen geführt haben. Diese Woche sieht das Ganze schon etwas anders aus…

 ITAlien

Vertrauensvotum überstanden, Zukunft unklar

Die Regierung Conte hat die zwei Vertrauensabstimmungen in der Abgeordnetenkammer und im Senat bestanden. Conte konnte sich im Senat zwar mit einer Mehrheit von 156 zu 140 Stimmen durchsetzen, allerdings nur weil sich die Senator*innen von Italia Viva (Renew) enthielten. Genau deshalb reichte es auch nicht für eine absolute Mehrheit von 161 Stimmen. Damit hat die Regierung im Senat keine stabile Mehrheit mehr, im Abgeordnetenhaus dagegen schon. Für den Fall von vorgezogenen Neuwahlen sehen Umfragen einen Sieg für die Rechtspopulisten der Lega (ID) und der Fratelli d`Italia (EKR).

Apropos Populisten: Zwei Senatoren von Forza Italia (EVP), der Partei von Ex-Premierminister Silvio Berlusconi, stimmten für Conte und wurden prompt rausgeworfen. bw

Estland

Die guten Seiten eines Rücktritts

Estland bekommt eine neue Regierung und die erste Regierungschefin in der Geschichte des Landes. Kaja Kallas, Vorsitzende der liberalen Reformpartei (Renew), wird dem scheidenden Premierminister Jüri Ratas nachfolgen. Ratas hatte nach Korruptionsvorwürfen gegen seine links-liberale Zentrumspartei (Renew) in der letzten Woche seinen Rücktritt angekündigt. 

Seine designierte Nachfolgerin Kallas wird einer Regierungskoalition aus Reform- und Zentrumspartei, den beiden größten Fraktionen im Riigikogu, vorstehen. Die rechtspopulistische Konservative Volkspartei (EKRE/ID) scheidet somit aus der Regierungsverantwortung aus. Ratas und seine Zentrumspartei gingen nach einer Wahlniederlage 2019 eine umstrittene Koalition mit EKRE ein. 

Das neue Regierungskabinett wird das weiblichste in der Geschichte Estlands sein und ist nahezu geschlechterparitätisch besetzt. Regierungswechsel haben in Estland eine gewisse Tradition: Die Regierung Kallas ist bereits die 18. Regierung seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands im Jahr 1990. vp

Slowenien

Gerettet durch Corona?

Die slowenische Opposition hat ihr für diese Woche angesetztes Misstrauensvotum gegen den rechtspopulistischen Premierminister Janez Janša (SDS/EVP) zurückgezogen. Einer der insgesamt 42 Abgeordneten, die ihre Unterstützung für das Votum zugesagt hatten, wurde positiv auf COVID-19 getestet. Geheime Abstimmungen in der slowenischen Staatsversammlung können nach aktuellem Recht nicht digital von Zuhause abgehalten werden.

Von Seiten des Regierungslagers um Janšas rechtspopulistische SDS wurde der Rückzug der Opposition vor allem mit reichlich Spott begleitet. Vielen schien der Coronafall als  Vorwand der Opposition um eine peinliche Niederlage im Misstrauensvotum zu vermeiden. Für ein erfolgreiches Misstrauensvotum und – viel wichtiger – um danach eine Regierung bilden zu können wäre eine absolute Mehrheit von 46 Abgeordneten notwendig. 

Ganz durch ist das Thema allerdings noch nicht. Es wird vermutet, dass die Opposition das Misstrauensvotum bei nächster Gelegenheit erneut einbringen wird. vp

Tschechien

Keine deutsche Milch im tschechischen Kaffee

In reichlich ungewöhnlicher Konstellation hat das tschechische Abgeordnetenhaus in dieser Woche einem Gesetzentwurf mit politischer Sprengkraft zugestimmt. Ab 2020 sollen in tschechischen Großmärkten mindestens 55% ausgewählter Lebensmittel aus Tschechien kommen. Bis 2028 soll diese Lebensmittelquote auf 73% erhöht werden. Das Gesetz wurde von der rechtsextremen Oppositionspartei SPD (ID) eingebracht, fand aber die Unterstützung großer Teile der regierenden ANO (Renew) und Sozialdemokraten sowie der Kommunisten.

Dass man sich auch im Parlament deutsche Milch in seinen Kaffee schütte, sei der Beweis für den Bedarf einer Regulierung, argumentierte Landwirtschaftsminister Miroslav Toman (ČSSD/S&D) und rief die Abgeordneten auf doch “ein bisschen nationalistisch” zu sein, wenn es um tschechische Lebensmittel geht.

Bei Oppositionspolitikern und Landwirtschafts- und Handelsverbänden löst das Gesetz in erster Linie Kopfschütteln aus. Experten gehen davon aus, dass Lebensmittelquoten zu höheren Preisen führen könnten. Kritiker befürchten auch, dass das protektionistische Vorhaben vor allem Agrarkonzernen in die Hände spielen wird. Gründer und bis 2017 Alleineigentümer des größten tschechischen Agrarunternehmen Agroferts ist niemand Geringeres als der tschechische Premierminister Andrej Babiš (ANO/Renew). Öffentlich sprach sich Babiš gegen das Gesetz aus:

“Ich halte das für eine nutzlose politische Geste, die gegen die Prinzipien des EU-Binnenmarktes verstößt.

Andrej Babiš (ANO/Renew), Premierminister und reichster Mann Tschechiens

In der Tat würden Lebensmittelquoten mutmaßlich andere EU-Lebensmittelproduzenten diskriminieren und somit gegen das zentrale Binnenmarkt-Prinzip des freien Warenverkehrs verstoßen. Die Kommission und andere Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, zeigten sich diesbezüglich besorgt.

*Das ist so eine Sache. Die EU-Kommission geht davon aus, dass Babiš weiterhin großen Einfluss auf das Unternehmen ausübt und somit ein erheblicher Interessenkonflikt besteht. Agrofert erhält Millionen an EU-Subventionen, die Babiš als Premierminister für Tschechien mit verhandelt.

Redaktionsschluss: Sonntag, 17.01.2021, 20:00

Die Meldungen für EUROPE IN-SIGHT werden von mehreren Autor*innen verfasst und kommentiert. Sie geben dementsprechend eine subjektive Sicht auf die Geschehnisse der Woche wieder.

Alle Icons (Mikrofon & Flaggen) stammen von Icons8.de und wurden unter der Lizenz CC BY-ND 3.0 veröffentlicht.

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