So nah und doch so fern Wie die Briten zu Europa fanden

Essay

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied zu nehmen von dem Land Churchills, Thatchers, Miss Marples, dem Land der Right Honorable Ladies und Gentlemen („Ordaaaaa“), der Teetrinkerinnen, Meisterspione und der Rosinenpickerei.

Seit Freitag (31.01) 23 Uhr Ortszeit ist das Vereinigte Königreich nach 47 Jahren offiziell kein EU-Mitglied mehr. Und auch wenn der Brexit eigentlich nicht mehr als ein formaler EU-Austritt Großbritanniens war und alle EU-Regelung, die britische Mitgliedschaft im Binnenmarkt und in der Zollunion bis mindestens Ende 2020 bestehen bleiben, so war er trotz allem ein sehr emotionales Ereignis für alle Beteiligten. Für die Brexiteers und Remainer im UK sowieso, aber auch für viele Europäerinnen und Europäer, die an diesem Tag einen langjährigen Weggefährten für das europäische Projekt verloren haben.

Das Verhältnis der Briten zu diesem Projekt war ganz sicher nicht immer konstruktiv, geschweige denn integrationsfreudig. Es war stets zwiespältig, ein Hin und Her zwischen europäischer Integration und britischer Sonderrolle.

Gleichzeitig aber war britisches Zutun für die Entstehung und Entwicklung eines europäischen Friedensprojektes unerlässlich.

Der EU-Abgeordnete und Brexit-Chefunterhändler des Europaparlaments Guy Verhofstadt (Renew) brachte es in der letzten Parlamentssitzung mit den britischen Abgeordneten am Mittwoch (29.01) auf den Punkt:

„Es ist traurig, dass uns ein Land verlässt, dass uns zweimal befreite, zweimal sein Blut gab, um Europa zu befreien.“

MEP Guy Verhofstadt (Renew), Brexit-Chefunterhändler für das Europaparlament – Bild: CC-BY-4.0: © European Union 2020 – Source: EP
MEP Guy Verhofstadt (Renew), Brexit-Chefunterhändler für das Europaparlament – EU-Parlamentsitzung 29.01.2020 / Bild: CC-BY-4.0: © European Union 2020 – Source: EP

Und es war schließlich niemand Geringeres als Churchill, der schon ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Vereinigten Staaten von Europa forderte – wohlgemerkt ohne das Vereinigte Königreich. Ihm schwebte eine europäische Organisation vor, in dessen Zentrum eine enge Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich stehen sollte.

Wie von Churchill formuliert und beabsichtigt, bildete sich in den folgenden Jahrzehnten nach und nach eine europäische Gemeinschaft – zunächst durch Verknüpfung kriegswichtiger Industrien in der Montanunion, dann durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – während das UK vorerst seinen eigenen Weg ging.

Erst nachdem Großbritannien Anfang der 60er befürchten musste, wirtschaftlich den Anschluss zu verlieren, und mit einer eigenen Europäischen Freihandelszone scheiterte, trat es schließlich 1973 der EWG bei. Der Start der Briten in der europäischen Gemeinschaft war mehr als holprig.

Gleich zweimal legte Frankreich unter Präsident de Gaulle sein Veto gegen den Beitritt des Vereinigten Königreichs ein. Nur zwei Jahre nach EWG-Beitritt wurde die Mitgliedschaft unter neuer britischer Labour-Regierung wieder nachverhandelt und prompt zum Gegenstand des ersten landesweiten Referendums in der Geschichte Großbritanniens.

Nur wenige Jahre später kam mit Margaret Thatcher eine Premierministerin ins Amt, die britische Interessen in Brüssel mit harter Hand durchzusetzen wusste. Sie setzte den allseits bekannten „Briten-Rabatt“ durch, der Großbritannien die Rückerstattung von rund Zwei Dritteln seines Netto-Beitrags am EU-Budget zusichert, und legte damit den Grundstein für die britische Rosinenpickerei.

Es gibt jedoch auch einige nicht gerade unbedeutende europäische Errungenschaften, die auf britische Ideen oder Initiativen zurückgehen. Der Konservative Arthur Cockfield trieb als EU-Kommissar den Abbau zahlreicher Handelshemmnisse voran und gilt deshalb als Vater des Europäischen Binnenmarktes. Der erste und einzige britische Kommissionspräsident Roy Jenkins ebnete während seiner Amtszeit den Weg zur Währungsunion und damit zum Euro.

Es erscheint als eine Ironie der Geschichte, dass Thatcher unter anderem wegen ihrer Ablehnung der Währungsunion und gemeinsamen Währung von ihren pro-europäischen Parteigenossen gestürzt wurde und als Premierministerin zurücktrat. (Das UK trat der Währungsunion letztendlich bei, allerdings mit einer Ausstiegsoption für die Verpflichtung, den Euro als Währung zu übernehmen.)

Regierungen, die an ihrer Europapolitik zerbrechen, und Premierminister, die an der Spaltung ihrer Partei über die „Europafrage“ scheitern, haben also durchaus Tradition im Vereinigten Königreich. Eben diese Spaltung und Uneinigkeit der britischen Konservativen hat den Boden bereitet für das Brexit-Referendum und letztendlich auch den Sieg der Leave-Kampagne.

Die Schuldfrage für einen so komplexen Vorgang wie den Brexit eindeutig zu beantworten, ist nahezu unmöglich. Es waren viele Faktoren, Fehler und falsche Entscheidungen, die den Aufstieg extremer Europakritiker und Nationalistinnen begünstigt und ihren Sieg im Referendum ermöglicht haben. Und letztendlich waren es natürlich die Briten, die an jenem schicksalhaften 23. Juni 2016 mehrheitlich auf honigsüße Versprechungen der Brexiteers hereinfielen.

Es war damals nicht das erste Mal, dass in einer Volksabstimmung eine Entscheidung gegen die EU gefällt wurde. Dänemark und Schweden entschieden sich in einem Referendum mehrheitlich gegen die Übernahme des Euros als Währung. Eine europäische Verfassung wurde 2005 durch Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gekippt.

Nicht zuletzt durch den Brexit ist also klar geworden: Die EU hat ganz offensichtlich ein Problem, ihre Projekte an die EU-Bürgerinnen zu vermitteln.

Europapolitik erscheint oft weit weg, in Brüsseler Hinterzimmern, unerreichbar für den EU-Bürger. Populisten wie nationale Politiker haben leichtes Spiel, die EU für Missstände und eigenes Versagen an den Pranger zu stellen.

Natürlich sollte in diesem Zusammenhang auch die entscheidende Rolle der Medien nicht übersehen werden. Bis auf wenige Ausnahmen war die Berichterstattung über Europa in britischen Medien durchweg europakritisch und die EU vor allem in Form von Verordnungen über korrekte Farbe und Krümmungsgrad von Bananen präsent. (Besagte EU-Verordnung ist lediglich eine Vereinheitlichung der bereits existierenden unterschiedlichen nationalen Vorgaben und schreibt entgegen vielfacher Behauptung keinen Krümmungsgrad vor. Die Verordnung trat bereits vor fast zehn Jahren außer Kraft.)

Doch auch die EU könnte sich bei ihren Bürgerinnen mit einigen Reformen mehr Glaubhaftigkeit verschaffen und sollte der Tatsache Genüge tun, dass die EU-Kommission mehr Regierung als Verwaltung ist. Nigel Farage, Brexiteer der ersten Stunde und Gründer der Brexit-Partei, hat nicht ganz Unrecht, als er in seiner letzten Rede im EU-Parlament auf die Problematik hinwies, dass die EU-Chefexekutive, vor allem die Kommissionspräsidentin, von der Wählerschaft nicht zur Verantwortung gezogen werden könne.

Ein erster wichtiger Schritt, den die EU auf ihre Bürgerinnen zugehen müsste, wäre dementsprechend, sie mehr an den politischen Prozessen in Europa zu beteiligen; sei es durch ein bindendes Spitzenkandidatensystem für die Wahl der Kommissionspräsidentin oder durch Bürgerversammlungen, in denen die Europäerinnen selbst neue Ideen für die immensen Herausforderungen der Zukunft einbringen und diskutieren können.

Trotz all seiner Destruktivität lässt sich der Brexit doch auch als Chance für Europa begreifen. Als eine Chance für die EU, sich zu reformieren und mit neuem Mut geschlossen in die Zukunft zu gehen. In eine Zukunft, in der die Briten sicher einmal wieder Teil der europäischen Gemeinschaft sein werden.

Und wenn auch nicht unbedingt als EU-Bürgerinnen, dann zumindest als Europäer.

Schon jetzt hat der Brexit eine Generation neuer Europäer hervorgebracht, im Vereinigten Königreich und in der EU. Nie waren die EU27 geeinter als in den Brexit-Verhandlungen. Nie haben sich mehr Menschen zu Europa bekannt, als vor und nach dem Referendum. Und so sind sich Briten und Europäer vielleicht gerade jetzt im Abschied näher als jemals zuvor in ihrer gemeinsamen Geschichte.

Die MEPs singen zum Abschied der britischen Kollegen das schottische Neujahrslied “Auld Lang Syne”. V.l.n.r. die Vorsitzenden der EU-Parlaments-Fraktionen Philippe Lamberts (Greens-EFA), Ska Keller (Greens-EFA), Malik Azmani (Renew), Dacian Cioloș (Renew) und Esther de Lange (EPP). – EU-Parlamentsitzung 29.01.2020 / Bild: CC-BY-4.0: © European Union 2020 – Source: EP
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